Wo beginnen?
Jetzt. Ich weiss es .
Mein Mann hat einen Cousin. Er heisst Francesco und ist examinierter Krankenpfleger, mit Schwerpunkt ‚Krankenpflege in Krisen- und Katastrophengebieten‘. Francesco ist schon sehr viel in der Welt herumgekommen, hat für humanitäre Hilfsorganisationen gearbeitet. Und tut das auch immer noch. Das letzte Mal hatte ich ihn Anfang Oktober in Turin getroffen. Meine italienische Familie stammt aus Turin. Francesco berichtete begeistert davon, dass seine chinesische Frau ein Baby erwarten würde und dass sie eine neue Wohnung in Wuhan gefunden hätten und er übermorgen dorthin zurückkehren würde. Das war das erste Mal, dass ich überhaupt von der Existenz dieser Metropole erfuhr. Ende Dezember kamen dann Francescos Eltern, Valerio und Grazia, aus China zurück, sie hatten ihr neugeborenes Enkelkind besucht. Kurz daruf überschlugen sich dann die Ereignisse + Nachrichten aus jener Stadt. Zuerst hatten wir wenig Notizen… da war ja auch unser Alltag und Asien (noch) weit weg. Die Probleme + Sorgen wurden grösser und dann hörten wir Francesco in italienischen Fernseh- und Radioprogrammen aus Wuhan berichten und er selbst veröffentlichte Blogpost auf dieser Seite hier. Wer kennt sie nicht, die schrecklichen Bilder aus China?!
Ende Januar schafften seine Familie und er es, mit einer italiensichen Maschine aus China nach Italien zu fliegen und sie verbrachten erst einmal zwei Wochen Quarantäne in Rom, in einer Kaserne.
Jetzt lebt die kleine Familie bei Valerio und Grazia.
Ich bedauerte den Cousin und bewunderte sein Durchhaltevermögen. Dass sein Vater aus dem Kirchenchor in Turin ausgeschlossen wurde, weil er seinen Sohn aus China bei sich zu Hause aufgenommen habe, erschien mir als ziemlich ‚arschig‘.
Und nun befindet sich meine Wahlheimat in einer vergleichbaren Situation. Am 24.2. verstand ich, dass mein ‚territorio‘ zur gelben Zone wurde, weil wir in der Nähe der ‚roten‘ leben. Nachrichten und behördliche Massnahmen wurden ergriffen und überrollten den Alltag. Keine Schule, keine Uni… wenig Termine, viele Absagen. Inzwischen ist ganz Italien ist im Ausnahmezustand, seit Sonntag leben wir unter Qurantäne, heute ist Tag Nummer zwei der Ausgangssperre.
Im Moment hat die mittlere Tochter Fernunterricht, fünf Stunden am Pc. Ihr Augen sind Quadrate, sie fühlt sich benommen. Der Sohn studiert alleine vor sich hin, er hat Notizen, Unterlagen und Bücher und hat entschieden, den online-Vorlesungen wenig zu folgen. Es gibt Probleme mit der Internetverbindung und er sagt, er könne sich schlecht konzentrieren. Die Kleinste macht ‚Hausaufgaben‘ im Schlafanzug. Über ihr ‚telefono mobile‘ ruft sie aus dem ‚registro elettronico‘ (so eine Art digitales Klassentagebuch) und via einer App ihr Lernprogramm ab. Privacy gibt’s nicht mehr: Schüler und Lehrer tauschen sich Telefonnummern und Emailadressen aus. Heute Nachmittag hat eine Lehrerin einen Spielnachmittag (via skype) organisiert, die Teilnahme ist freiwillig. Mein Mann hatte noch bis Freitag voll gearbeitet, war noch auf businesstrips, jetzt hat er morgens homeoffice und nachmittags ist er in Ferien.
Am Montag hatte ich meinen ersten Hamsterkauf erledigt. Nicht aus Angst um die Versorgungslage, sondern aus dem einfachen Grund, nicht zu oft das Haus verlassen zu müssen. Jetzt haben wir einen vollen Küchenschrank und im Hauswirtschaftsraum zwei Kisten mit Konserven, abgepacktem Brot, Saft etc. Ja, ihr lieben Deutschen, ich habe auch Klopapier und, bei drei Frauen in der Familie, eine extra Ration an Hygieneartikeln besorgt. Nicht vergessen: unser Kaninchen, sechstes und kleinsten Familienmitglied. Auch für es ein Hamsterkauf, bestehend auf Sroh, Heu und Trockenfutter.
Am Dienstag hatte ich persönlichen Kontakt mit einer Nachbarin, deren Tocher und ihrer Freundin und zu einer Klassenkameradin meiner kleinen Tochter und deren ‚mamma‘ und Oma. Am Mittwoch bin ich nochmals aus dem Haus, das letzte liegengebliebene Schulmaterial für die Kleinste abholen. (wann und ob die Schulen öffen, steht in den Sternen!) Die letzten nicht zu meiner Familie gehörenden Personen, die ich getroffen habe, sind also die Hausmeisterin der Schule und, weil ich noch kurz was besorgen war, die Metzgereifachverkäuferin.
Die ersten zwei Wochen im ‚Coronafrei‘ hatten auch was Nettes an sich: keine Alltagshetze, mein Geburtstag, bissle entschleunigen, bissle ‚ciondolare‘, was ‚herumgammeln‘ bedeutet. Der Alltag draussen war noch mehr oder weniger normal. Weniger, immer weniger.
Europa schaute auf Italien. Und diese ‚es ist doch nur eine Grippe-Zeit‘ war eindeutig vorbei. In der Tat kippte die Situation am Freitag, 7.3., um. Wenn man aufmerksam Nachrichten und Pressekonferenzen verfolgte, wurde klar, dass irgendetwas passieren musste/würde. Das Gesundheitswesen ist am kollapieren. Es fehlt an Personal, Material und Räumlichkeiten. Schreckensberichte im TV und in den socialmedia lassen das Gefühl aufkommen, das Land sei im Krieg. Ich kann die Menschen verstehen, die an irgenwelche Verschwörungstheorien glauben.
Letzten Samstagabend hatte ich ein date bei einer guten Freundin. Pizza, Bier, Tiramisù und Lakritzlikör. An diesem Abend wurde die rote Zone auf meine Region, die ganze Lombardei, und weitere Provinzen ausgeweitet. Eingeschränkte Mobiliät.
In der Nacht brach das Choas aus, denn aus der Grossstadt Milano flohen tausende Menschen Richtung Süditalien. Diese wurden aber an Haltestellen und Bahnhöfen von Polizei und Krankenwagen kontrolliert, abgefangen und in Heimquarantäne geschickt. Als dann in diversen Gefängnissen Aufstände ausbrachen, es ging um extrem strenge Besuchszeiten/Kontaktsperre u.a. und dann auch noch die autonome Szene mitmischte, bekam ich das erste Mal richtig Angst um die öffentliche Sicherhiet..
Stattsoberhaupt Giuseppe Conte stellte das ganze Land unter Quarantäne und wir Bürger erhielten Ausgangssperre.
Es ist schwer in Worte zu fassen, was wir/ich in diesen Tagen erleben und fühlen. Es ist ein Auf und ein Ab: Nachrichten, Meldungen, die tägliche Pressekonferen des Zivilschutzes um 18 Uhr, Zahlen, Statisken … mein whatsapp und outlook laufen heiss, man tauscht sich alles aus: Emotionen, Sorgen, Schlagzeilen, News, Witze, Videos, Kochrezepte, Aufrufe zu flashmobs. Ein sehr wertvolles Ventil: mein Twitter! Ich liebe Euch alle!
In China wurde von den Balkons aus gerufen und geschrieen, in Napoli gibt’s Musik. Mir kommen die Tränen vor Rührung.
Natürlich habe ich Angst. Ich will nicht unbedingt erkranken, es ist immer Scheisse, wenn eine Mutter und Ehefrau ausfällt. Mein Mann kann vieles, aber ihm fehlen auch Informationen (nach dem Motto: er macht seinen Job, ich meinen). Gott sei Dank, sind meine Kinder relativ gross, autonom, verantwortungsvoll und sich der Situation voll im Klarem. Sollten sie erkranken, weiss ich, dass ich eine ziemlich gute Kinderkrankenschwester sein kann. Habe Erfahrung seit 20 Jahren, bin eigentlich immer gelassen geblieben, bis auf das eine Mal, als die mittlere Tochter einen Unfall hatte und in der Maxillo–Fazial- Chirurgie landete. Sorgen machen ich mir um den Mann, der ist sehr vulnerabel für Atemwegsinfekte. Ich muss an den Schwiegervater, betagt und einigen Wehwehchen, denken, den wir nicht besuchen dürfen. Ich denke an meine Mutter, sie hat gerade eine Strahlentherapie hinter sich.
Im Grunde sind nur wenige Wochen vergangen, aber das was Normal war, der Alltag, scheint ewig weit weg. Luxusware. Und: wer weiss, wie lange diese Situation noch anhalten wird. Die Ausgangssperre und die Massnahmen des lezten Dekretes sollen bis 25.3. dauern.
Dass etwas Schlimmes passieren wird, wurde uns am Wochenende 22./23.2. klar. Wir fuhren in den Skiort Bardonecchia. Mein Schwager und seine Familie haben dort eine Ferienwohnung, mit anderen Bekannten feierten wir den 18. Geburtstag meiner Nichte. Am Samstag gingen schon die ersten, alarmierenden Nachrichten um, am Abend sprachen wir Erwachsenen über nichts anderes und das Jungvolk starrte uns sowohl genervt als auch beängstigt an. Am Sonntag verbrachten wir den Mittag auf einer Hütte, sassen in der Sonne, sahen den Wintersportlern zu, und auch den vielen Skischulegruppen, alle in lustigen Kostümen – es wa ja Karneval! Im Internet dauernd irgenwelche breaking news… am Nachmittag gingen wir in die Kirche. Kein Friedenszeichen. Abstand halten während der Eucharistie. Gebete für das ‚colletivo‘. Wir fuhren dann nach Hause und landeten in einer veränderten Welt.
Die meist gebrauchten Adjektive seit jener Autofahrt: gespentisch, absurd, irreal, irrsinnig.
Es ist inzwischen halb zwei Uhr geworden. Ich sollte mal Mittag kochen, um halb drei habe ich ein berufliches Telefonat und um sieben dann meinen üblichen Freitagabend-Abendkurs. Online. Dazwischen ein bisschen selfcare: ein Spaziergang hier ums Haus. Mit aus dem Internet downgeloadeter, obligatorischer Bescheinung, die ich ausfüllen muss: Wer bin ich und was will ich draussen?
Bestimmt kommt es noch zu einem gemeinsamen Fernsehabend mit brainwashing, denn anstatt Werbung kommen vermehrt spots der Ministerien, die die Bevölkerung auffordern, sich an die Regeln und Gesetze zu halten. Unter Androhung von Bussgeldern und schlimmerem.