Es soll Leute geben, die schreiben an einem Corona-Tagebuch. Ich schreibe ja auch gerne mal, aber tagtäglich sein Befinden, Erlebtes, Gedachtes oder all die Zahlen und Statistiken und politischen Ereignisse, die Kungebungen und Krawalle zu notieren, das wäre mir zu viel. So manches Detail darf vergessen werden, meine ich. Auf der anderen Seite nehme ich gerne Worte zu Hilfe, um zu berichten, was mit mir und um mich passiert: sich die eigene Journalistin sein. Zu Beginn des Monats November bot der lyrimo (s. Schlagwort-Wolke) an, die Dichterei (wieder)aufzunehmen. Oh ja, herzlich gerne! Bei Twitter habe ich erst vorvorgestern den Hashtag ‚Lockdownlyrik‘ entdeckt; nette Idee, dachte ich. Da steht jedoch ziemlich wenig drunter und ausserdem, meine Worte, die hinaus wollen, sind zu zahlreich, um sie ’nur‘ als Lyrik zu verpacken.
Ein Impuls beim lyrimo hiess „hinter dem Fenster wartet“. Und was kam mir spontan in den Sinn? „Hinter dem Fenster wartet die Ausgangssperre“, dachte ich mir. Ja, man lebt hier wieder in der zona rossa, ja, die Bewegungsfreiheit ist wieder eingeschränkt. Kein Schwiegervatertreffen in der Nachbarregion. Ein Deutschlandbesuchsversuch wurde verschoben. Das Viereck Mailand-Varese-Como-Monza gleicht Bergamo. In meinem Wohnort mit etwas mehr als 20.000 Einwohnern, zählte man vergangenem Mittwoch 502 positiv Getestete. Dazu viele Menschen, die nicht mehr leben. Der Gedanke, dass auch der eigene Mann… aber er ist daheim und erholt sich. Unsere eigene Covid-story wurde in der Samstagsausgabe der Lokalzeitung abgedruckt. Man muss darüber sprechen. Die ’negazionisti‘ passen mir absolut nicht in den Kram…Puh!
Resilienz ist ein Wort, dessen Bedeutung mir im Moment sehr wichtig ist. Darin übe ich mich gerade. Denn ich merke deutlich, dass ich auf empfindliche Weise zu empfindsam für diese Welt bin. Dennoch muss ich hier noch eine Weile aushalten.
Jeden Morgen entschlüpfe ich einer recht langen Nacht, denn niemand von uns muss früh raus. Jeder hat sein Pensum an Schule, Studium, Arbeit, jeder hat seine Freizeitaktivitäten. Der Supermarktbesuch wird zum Highlight. Manchmal ist es fast idyllisch hier: die PC summen vormittags (um elf Uhr macht das Gymnasium die Grosse Pause) und nachmittags; mittags und abends gemeinsame Mahlzeiten, je nach Gusto in kleineren Gruppen aufgeteilt Flucht in Fernsehserien oder Anime. Unterhaltsame Whatsappgruppen mit den besten Freundinnen zur Ablenkung. Ein lieber Extragruss an die Schreibweiber (s. Schlagwort-Wolke). Jeden Tag heulen hier Krankenwagensirenen. Jeden Abend gehe ich schlafen und fühle mich ‚tagesmüdekalt‘.
Noch stehe ich. Ja, das mag aufreisserisch klingen, aber die Lage in Italien ist wieder sehr dramatisch. Ich pass auf mich auf. Ich bewege mich, wenn ich Zeit habe. Ich war am Wochenende draussen, zum Spaziergang, auf den Wegen, die im Bereich des Erlaubten liegen. Hinterm Haus habe ich, eingeklemmt zwischen anderen Häusern und Einkaufszentrum mit Tankstelle und kleinen Industrien neben der Ausfallstrasse, ein paar Felder, Wiesen, Bäume und einen Rad- und Fussgängerweg. Ist das Wetter klar, sieht man die Alpen. Es liegt schon Schnee auf manchen Gipfeln. Der Spaziergang verjagt den Schwindel, der sich im Nacken fest gesetzt hat, ich schüttle mir die Schultern frei, simple Muskelverspannungen, weil zuviel vorm Handy oder Computer.
Ich nehme die kleine Tochter mit. Sie muss an die frische Luft, sage ich. Ich predige was von Kreislauf und so. Ich frage, wie es ihr geht, aber sie trägt Stöpsel mit ihrer Musik im Ohr. Zuckt nur mit den Schultern. Wir gehen schweigend. Die Pandemie scheint normal geworden zu sein. Am Tag davor ging ich den gleichen Weg mit dem Sohn, er vertraut sich mir an, sagt, dass die Eine, die ihm gefiele, mit dem Freund Schluss gemacht hätte. Er habe Hoffnung. Und wenn ich den Weg mit der anderen Tochter mache, wird es sehr gesprächig, sie braucht Trost, sie leidet an Verlusten: die Schule ist zu, die Theater-AG ist zu, die Klettergruppe auch, die Freundinnen sind unerreichbar.
So marschiere ich also mit meinen Körper durch die kleine Draussenwelt und meine Augen sehen der prachtvollen ‚foliage‘ zu, sammeln Bilder und das Hirn zählt Gänseblumen (im November?), vier riesige Pilze unter der Birke, einen verlassenen Abfallsack, eine verloren gegangene, zerknautschte Maske, zwei gelbe und einen weissen Schmetterling auf Blumen, deren Namen ich nicht kenne, drei Fussgänger und sechs Radfahrer, eine neue Baustelle, drei falsch geparkte Autos.
Die Luft ist frisch, unter den Bäumen ein bisschen modrig, aber auch das ist angenehm. Das Feld ist leer geerntet, doch weiter hinten, abseits der Traktorspuren ein paar Büschel, grün, als ob es Frühling sei. Im Oktober weidete hier eine grosse Schafs- und Ziegenherde. Die Ziegen waren auf die Bäume geklettert. Da sah ulkig aus.
Im Zuhause fiel mir ein, dass ich Kerzen suchen sollte, da heute im Raum Mailand der erste Advent ist. Sechs Wochen bis Weihnachten. Die kleine Tochter freut sich, die mittlere Tochter hat Vanillekipferl vorbestellt.
Dann ist Montag geworden. Doppelten Milchkaffee. Der frühe Acht-Uhr-Schüler war schon online.
Pian pianino. Schön langsam. Murmele ich. Neues Mantra mit dem ich durch den Alltag drifte.